Der Behinderung seines Sohnes hat Richard Loewe auch in der Weise Rechnung getragen, dass er letztwillig verfügte, Lina Schaaf solle seine Pflege übernehmen. Dass sie diesen Auftrag treulich ausführen werde, hatte sie ihrem Dienstherren in die Hand versprochen. Selbstverständlich blieb sie deshalb mit Gerhard in der Fünfzimmerwohnung Ludwigstraße 6 wohnen, nachdem der Vater 1930 gestorben war. Die beiden lebten, in der Nachbarschaft wohlangesehen, von den Erträgnissen der Erbschaft, von Zuschüssen der Ärztekammer und Zuwendungen der Verwandtschaft, unter anderem von Reichsminister a.D. Eugen Schiffer . (Gerhard Loewes Mutter war eine geborene Schiffer und stammte wie Eugen Schiffer aus Breslau.)
In den Jahren nach seinem Studium muss sich Gerhard Loewe einen Namen erworben haben, der sich in mehr als einem Gedächtnis auf Dauer festgesetzt hat. „Er war“, schreibt eine Zeitzeugin, „der Cannstatter ‚Gäng-Gäng’ und hat seine Töne nicht nur an der Straßenbahnhaltestelle, sondern auf all seinen Wegen von sich gegeben.“ Dankwart Zeller, damals 13 Jahre alt, beobachtete „die Angewohnheit, an der Haltestelle vorne am Eck die Töne der heranbimmelnden Straßenbahn vor sich hin zu summen: ‚Gäng-gäng, gäng-gäng’, so als wolle er prüfen, ob daraus eine Melodie zu machen sei.“ Dieses harmlos-auffällige Verhalten hat Gerhard Loewe den Spott der Nachbarskinder und seinen Spitznamen eingetragen und muss wohl Ausdruck seiner geistigen Behinderung gewesen sein. Das beweist die Aussage einer 1937 zu Besuch nach Cannstatt gekommenen Cousine, die ihren Vetter Gerhard veranlasste, „unter Mitwirkung des 2. Testamentsvollstreckers […] und dem Vormund […] einen Schenkvertrag an Frl. Lina Schaaf zu verfassen, der dann auch von Herrn Gerichtsnotar […] beglaubigt wurde. Alle beweglichen Gegenstände gingen somit in den Besitz von Frl. Schaaf über. U.a. befand sich [darunter ] auch ein sehr wertvolles Meistercello.“
Über diese wenigen Fakten hinaus kann über Gerhard Loewe nur berichtet werden, dass er selbstverständlich nach der Reichspogromnacht zur Judenvermögensabgabe herangezogen wurde. Und wie alle Juden musste er ab 1. September 1941 den Judenstern tragen. Acht Monate später, am 26. April 1942, wurde er unter dem Vorwand, er käme in ein Heim nach Grafeneck abgeholt. Ihrem Versprechen getreu, hat Lina Schaaf ihn begleitet. Ob bis zum Stuttgarter Killesberg, wissen wir nicht, bekannt ist jedoch, dass er von dort aus nach Izbica deportiert wurde. Das Amtsgericht Cannstatt hat Gerhard Loewe alias Gäng-Gäng im August 1947 auf den 24. April 1943 für tot erklärt.
Mehr als ein Jahrzehnt später, am 28. Dezember 1954 teilt das Landesamt für die Wiedergutmachung dem in Südrhodesien lebenden Rudolf Bernhard Loewe mit, dass Lina Schaaf am 4. November verstorben ist. Schon im Juni hatte die Direktion der Heilanstalt Rottenmünster dem Amt mitgeteilt, wegen einer „geistigen Störung“ sei „die Errichtung einer Pflegschaft nach § 1910 BGB beantragt“ worden.
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