Cannstatter Stolperstein-Initiative

Gerhard Loewe: "Schaaf und Loewe"

Gerhard Loewe war ein ungewöhnlicher Mensch: musikalisch hoch begabt, aber dem Alltag kaum gewachsen. Deshalb war ihm Lina Schaaf als Pflegerin beigegeben, die treu an ihrer Aufgabe festhielt, als es längst gefährlich war, Juden beizustehen. Sie hat ihren Schützling begleitet und ihm guten Glaubens ein wertvolles Cello mitgegeben, als er von NS-Schergen abgeholt wurde, seine Deportation und Ermordung vermochte sie nicht zu verhindern.

.Am 25. Oktober 1906 hat Gerhard Loewe in Cannstatt das Licht der Welt erblickt. Er war der dritte Sohn seiner Mutter Anna. Sein Bruder Rudolf Bernhard war vier Jahre älter, das Geburtsdatum des Halbbruders Hans Martin aus erster Ehe der Mutter lag zwischen 1890 und 1900. Der Vater war praktischer Arzt. Er stammte aus Oberschlesien und hatte sich 1889 in Heilbronn in zweiter Ehe mit Anna, geborene Schiffer verehelicht. Im selben Jahr hat er sich nach Ausweis der Adressbücher in Cannstatt niedergelassen. Die Kinder aus seiner ersten Ehe sind in sehr jungen Jahren gestorben.

Gerhard Loewe war gerade fünf Jahre alt, als im November 1911 seine Mutter starb. Schon ein Jahr zuvor war die 32-jährige Erzieherin Lina Schaaf aus Wiesbaden als Hausdame in den Arzthaushalt gekommen. War dem Tod der Mutter ein längeres Leiden vorausgegangen, das den Vater veranlasste, sich für Kinder und Haushalt eine Hilfe zu holen? Oder sahen beide Eltern sich durch die Pflegebedürftigkeit ihres Sohnes veranlasst, sich Hilfe zu holen? Fragen, die sich aus den vorliegenden Quellen nicht beantworten lassen.

Über Gerhard Loewes Kindheit ist über seine Pflegebedürftigkeit hinaus nur eines bekannt: Er war musikalisch begabt. Seine Pflegebedürftigkeit wird uns noch beschäftigen, seine Begabung ergibt sich daraus, dass er schon mit 13 Jahren am Königlichen Konservatorium in Stuttgart zu studieren begann und zu den Jüngsten seines Jahrgangs zählte. Die beiden Arztsöhne Hans und Walter aus dem Nachbarhaus Ludwigstraße 4, die am selben Tag aufgenommen wurden, waren zum Beispiel 16 und 18 Jahre alt.

Deutschland war Republik geworden, auch das Königreich Württemberg war schon Geschichte, als Gerhard Loewe im Herbst 1919 bei Kammervirtuos Max Nauber das Cellostudium aufnahm. 1927 bestätigte dieser seinem Schüler, er habe sich „durch großen Fleiß, unterstützt von eminentem Gehör und Gedächtnis, zu einem tüchtigen Cellisten herangebildet. Auch gelang es ihm, manche körperliche Hemmnisse so zu überwinden, dass er durch sein Können fähig ist, die praktische Tätigkeit in einem guten Orchester beginnen zu können.“ Von Einschränkungen ist in Gerhard Loewes Abschlusszeugnis weitere zwei Mal die Rede. „Innerhalb der Grenzen, die ihm gesteckt sind“, schrieb Tonsatz-Lehrer Hermann Roth, „hat er natürliche Musikalität bewiesen. Interesse und Fleiß waren sehr anerkennenswert, die Ergebnisse (immer in Anbetracht der besonderen Veranlagung) zufriedenstellend.“ „Musikalisch ausnehmend gut befähigt“, urteilte Alexander Eisenmann, „wenn auch infolge seines Gesundheitszustandes nicht immer gleichermaßen imstande, den im Musikdiktat gestellten Anforderungen zu entsprechen, hat Gerhard Loewe, der auch stets ein williger Schüler war, die höheren Musikdiktatklassen mit Erfolg besucht.“ Spätestens als die Juden von kulturellen Veranstaltungen ausgeschlossen wurden und deshalb die Stuttgarter Jüdische Kunstgemeinschaft gründeten, hat Gerhard Loewe Gelegenheit bekommen, seine „praktische Tätigkeit in einem guten Orchester“ zu beginnen. Höchstwahrscheinlich hat er dem von Karl Adler geleiteten Instrumentalkreis der Jüdischen Kunstgemeinschaft als ständiges Mitglied angehört. Ganz sicher hat er als Solist bzw. im Streichquartett bei folgenden Anlässen musiziert: am 7./8. April 1935 bei der Gemeindefeier zur Einweihung der jüdischen Schule, am 19. November 1935 bei einem musikalischen Abend zu Gunsten der jüdischen Winterhilfe und am 29. Juni 1936 bei einem Kammermusik-Abend.

Der Behinderung seines Sohnes hat Richard Loewe auch in der Weise Rechnung getragen, dass er letztwillig verfügte, Lina Schaaf solle seine Pflege übernehmen. Dass sie diesen Auftrag treulich ausführen werde, hatte sie ihrem Dienstherren in die Hand versprochen. Selbstverständlich blieb sie deshalb mit Gerhard in der Fünfzimmerwohnung Ludwigstraße 6 wohnen, nachdem der Vater 1930 gestorben war. Die beiden lebten, in der Nachbarschaft wohlangesehen, von den Erträgnissen der Erbschaft, von Zuschüssen der Ärztekammer und Zuwendungen der Verwandtschaft, unter anderem von Reichsminister a.D. Eugen Schiffer . (Gerhard Loewes Mutter war eine geborene Schiffer und stammte wie Eugen Schiffer aus Breslau.)

In den Jahren nach seinem Studium muss sich Gerhard Loewe einen Namen erworben haben, der sich in mehr als einem Gedächtnis auf Dauer festgesetzt hat. „Er war“, schreibt eine Zeitzeugin, „der Cannstatter ‚Gäng-Gäng’ und hat seine Töne nicht nur an der Straßenbahnhaltestelle, sondern auf all seinen Wegen von sich gegeben.“ Dankwart Zeller, damals 13 Jahre alt, beobachtete „die Angewohnheit, an der Haltestelle vorne am Eck die Töne der heranbimmelnden Straßenbahn vor sich hin zu summen: ‚Gäng-gäng, gäng-gäng’, so als wolle er prüfen, ob daraus eine Melodie zu machen sei.“ Dieses harmlos-auffällige Verhalten hat Gerhard Loewe den Spott der Nachbarskinder und seinen Spitznamen eingetragen und muss wohl Ausdruck seiner geistigen Behinderung gewesen sein. Das beweist die Aussage einer 1937 zu Besuch nach Cannstatt gekommenen Cousine, die ihren Vetter Gerhard veranlasste, „unter Mitwirkung des 2. Testamentsvollstreckers […] und dem Vormund […] einen Schenkvertrag an Frl. Lina Schaaf zu verfassen, der dann auch von Herrn Gerichtsnotar […] beglaubigt wurde. Alle beweglichen Gegenstände gingen somit in den Besitz von Frl. Schaaf über. U.a. befand sich [darunter ] auch ein sehr wertvolles Meistercello.“

Über diese wenigen Fakten hinaus kann über Gerhard Loewe nur berichtet werden, dass er selbstverständlich nach der Reichspogromnacht zur Judenvermögensabgabe herangezogen wurde. Und wie alle Juden musste er ab 1. September 1941 den Judenstern tragen. Acht Monate später, am 26. April 1942, wurde er unter dem Vorwand, er käme in ein Heim nach Grafeneck, abgeholt. Ihrem Versprechen getreu, hat Lina Schaaf ihn begleitet. Ob bis zum Stuttgarter Killesberg, wissen wir nicht, bekannt ist jedoch, dass er von dort aus nach Izbica deportiert wurde. Das Amtsgericht Cannstatt hat Gerhard Loewe alias Gäng-Gäng im August 1947 auf den 24. April 1943 für tot erklärt.

Mehr als ein Jahrzehnt später, am 28. Dezember 1954 teilt das Landesamt für die Wiedergutmachung dem in Südrhodesien lebenden Rudolf Bernhard Loewe mit, dass Lina Schaaf am 4. November verstorben ist. Schon im Juni hatte die Direktion der Heilanstalt Rottenmünster dem Amt mitgeteilt, wegen einer „geistigen Störung“ sei „die Errichtung einer Pflegschaft nach § 1910 BGB beantragt“ worden.

Sind das mutige Eintreten dieser Frau für den bedrängten Juden Gerhard Loewe, ihre Bereitschaft, Gefahr auf sich zu nehmen, jemals gewürdigt worden? An Wiedergutmachung hat Lina Schaaf, die im Jahre 1948 von 37,40 RM Invalidenrente leben musste, bis zu ihrem Tode 1100 DM erhalten. Ihrer Erbin verblieben nach Abzug eines „ungedeckten Restbetrages des Fürsorgeaufwandes der Stadt Stuttgart“ weitere 1070,03 DM. Dieser Triumph der Wiedergutmachungsbürokratie verdient es, wenigstens in groben Zügen nachgezeichnet zu werden!

Als ihr Schützling abgeholt wurde, erlag Lina Schaaf dem Schwindel und glaubte an die Heimunterbringung. Das geht daraus hervor, dass sie ein Schlafzimmer zur Verfügung stellte und ihrem Anbefohlenen guten Glaubens auch das mittlerweile ihr gehörende wertvolle Cello mit auf den Weg gab – eine willkommene Beute für den Oberfinanzpräsident Württemberg.

Nachdem Lina Schaaf mehr als drei Jahrzehnte der Familie Loewe gedient hat, bekam sie von Gerhard Loewe geschenkt, was er besaß. (Schon kurz nach dem Tod seines Vaters hatte er ihr über seinen Tod hinaus Vollmacht erteilt, über sein Konto und Depot zu verfügen, wie die Südwestbank im Mai 1948 mitteilte.) Mit Recht hat das Landesamt für Wiedergutmachung deshalb festgestellt, dass er „zum Zeitpunkt seiner Deportation nichts mehr besessen hat“. Damit wurden 1963 Ansprüche des in Rhodesien lebenden Bruders Rudolf Bernhard abgewiesen, dem es aber ohnehin nur darum ging, Lina Schaaf einen Dank abzustatten. Alles, was er durch die Vertretung und Bemühung von Lina Schaaf [im Zuge der „Wiedergutmachung“] erhalten könne, schrieb der Bruder, solle „für immer und unwiderruflich“ ihr Eigentum sein. Sie habe dies mehr als verdient, „durch ihre unvergesslichen und treuen Dienste“. Pflege von „selbstlosester und aufopferndster Art“ und „unter Gefahr am eigenen Leben“ hat Lina Schaaf auch Gerhard Loewes in der Schweiz lebende Cousine bestätigt. Schließlich gibt es folgende Aussage Marie Meyer-Ilschens, die als Cannstatter Jüdin selbst hart bedrängt war: „Fräulein Schaaf hatte sehr viel unter Bedrängnis der S.A. und der Gestapo zu leiden, die ihr verübelten, dass sie als Christin bei dem Juden blieb, aber sie hielt ihm die Treue.“

Bald nach der Deportation von Gerhard Loewe wurde Lina Schaaf in der Kreuznacher Straße ausgebombt. Es war der Angriff vom 15. April 1943, dem in den Stadtteilen Cannstatt, Münster und Mühlhausen 619 Personen zum Opfer fielen und eben auch das Haus Kreuznacher Straße 6. Nach dem Krieg finden wir Frau Schaaf in der Deckerstraße 49, und spätestens im März 1947 setzten ihre Bemühungen um Rückerstattung ein. Unter Hinweis auf ihre Vollmacht machte sie geltend, dass aus dem ihr geschenkten Vermögen Gerhard Loewes Bargeld und Pfandbriefe beschlagnahmt worden waren.

Ihre Bemühungen, das ihrem Pflegling seinerzeit mitgegebene Meistercello zurück zu bekommen, erbachten im September 1947 die Mitteilung des Finanzministeriums, das Instrument, das von verschiedener Seite auf 10 000 Mark taxiert wurde, habe der frühere Oberfinanzpräsident Württemberg vermutlich an einen namentlich genannten Instrumentenbauer verkauft. (Zwei Mitarbeiter der Behörde, bestätigten den Kauf intern, wollten jedoch nach außen hin nicht als Zeugen in Erscheinung treten.) Der Instrumentenbauer wurde vom öffentlichen Anwalt für die Wiedergutmachung über den Verbleib des Cellos befragt, bestritt aber entschieden, das fragliche Instrument erworben zu haben. Er wollte sich aber „an eine Auktion erinnern, in der ein Cello verkauft wurde. Er behauptet, den Ersteher […] vom Aussehen zu kennen, aber seinen Namen nicht zu wissen. Er will sich bemühen, den Namen dieses Mannes ausfindig zu machen und hat versprochen, uns von dem Erfolg seiner Bemühungen in Kenntnis zu setzen. Da wir die Angaben des Herrn Kern nicht widerlegen können, müssen wir Sie bitten, sich in dieser Angelegenheit noch einige Zeit zu gedulden. Wir hoffen jedoch, dass es möglich sein wird, den jetzigen Besitzer des Cellos ausfindig zu machen.“ Zu mehr haben die Bemühungen, den Verbleib des wertvollen Instruments zu klären, nicht geführt.

Man versteht, dass Lina Schaaf Antrag auf Bevorschussung ihrer Rückerstattungsansprüche gestellt hat, wenn man erfährt, dass sie von 37,40 Mark Monatsrente leben musste, während für ihre 30 Mark Monatsmiete das Wohlfahrtsamt aufkam. Das von ihr mit 2794,75 Mark bezifferte Vermögen drohte also rasch zu schwinden. Indessen wurde gegen ihren Antrag geltend gemacht, sie sei „nicht testamentarische oder gesetzliche Erbin des Verfolgten, also auch nicht Berechtigte im Sinne des Rückerstattungsgesetztes“. Dabei war offensichtlich, dass Lina Schaaf im Sinne Rudolf Bernhard Loewes sehr wohl Berechtigte war. Er hatte lediglich seine ihr erteilte Vollmacht zu unterschreiben versäumt. Hätte also ein wohlmeinender Sachbearbeiter Lina Schaaf geraten, diesen Formfehler beheben und den verschollenen Halbbruder Hans Martin für tot erklären zu lassen, die Dinge wären anderes gelaufen. Wäre das zuviel der Wiedergutmachung gewesen?

Immerhin wurde Frau Schaaf im April 1948 zwecks Prüfung der Rechtslage gebeten, beim Justizministerium vorzusprechen und im Juni zur Formulierung eines „ordnungsgemäßen Rückerstattungsantrages“ aufgefordert. Diesen Antrag vom 1. Juli 1948 ergänzte sie durch einen „Antrag auf Verwilligung vorläufiger Leistungen“ an die Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung. Der Öffentliche Anwalt für die Wiedergutmachung konstatierte zwar „eine unmittelbare politische Verfolgungsmaßnahme“, befand jedoch, bei „der verhältnismäßig geringen Höhe des erlittenen Schadens erscheint […] die Bewilligung einer laufenden Unterhaltsrente nicht gerechtfertigt. Es wird die Zahlung einer einmaligen Beihilfe zur Überbrückung des augenblicklichen Notstandes der Antragstellerin von etwa 300,— bis 500,— DM in Vorschlag gebracht.“

Im August wird der inzwischen Siebzigjährigen mitgeteilt, für ihren Fall sehe das Gesetz keine Möglichkeit der Wiedergutmachung vor. Hiergegen legt sie Berufung ein, der vom Justizministerium stattgegeben wird, das ihr „eine einmalige Beihilfe von 500,— DM bewilligt“. Im September 1948, sie lebt mittlerweile im Altersheim Villa Augusta in der Alexanderstraße, folgt ihr nächster Hilferuf: „Zur Bestreitung dringendster Ausgaben, z.B. einer Zahnprothese im Betrag von DM 80,— und sonstiger dringender persönlicher Anschaffungen fehlen mir die Mittel. Meine monatlichen Bezüge aus der Invalidenversicherung und vom Wohlfahrtsamt Stuttgart reichen lediglich zur Bestreitung meines Aufenthalts im Altersheim Villa Augusta.“ Die Landesbezirksstelle befürwortet daraufhin „die Gewährung einer Beihilfe aus übergesetzlichen Mitteln in Höhe von DM 200,—“, kommt jedoch zu dem Schluss, dass Frau Schaaf „Entschädigungsansprüche aus eigenem Recht“ nicht zustehen.

Im April 1954 endlich kam man überein, dass der Antragstellerin vom Deutschen Reich Schadenersatz in Höhe von 2250,— DM für das Cello und 1500 DM für Mobiliar und Bekleidung zu beanspruchen habe. Aufgrund dieser anerkannten Rückerstattungsforderung stellte sie bei der Oberfinanzdirektion Antrag auf Gewährung eines unverzinslichen Darlehens, das ihr in Höhe von 700,— DM gewährt wurde.

Dass Lina Schaaf Entschädigung auch für die aus dem ihr geschenkten Vermögen bezahlte Judenvermögensabgabe erheischte, hat einen besonders gewissenhaften Beamten zu folgender Feststellung veranlasst: „Die Aktiv-Legitimation der Antragstellerin ist nicht nachgewiesen. Es ist ungeklärt, wer Erbe des Gerhard Loewe ist. Ferner ist nicht nachgewiesen, dass die Antragstellerin Eigentümerin der Wertpapiere, mit welchen der größte Teil der Judenvermögensabgabe gezahlt wurde, und Inhaberin der Forderungen, die Gerhard Loewe gegen die Deutsche Bank hatte, geworden ist. Im Rückerstattungsverfahren wurde ohne jegliche Begründung unterstellt, dass die Antragstellerin Eigentümerin der Wertpapiere war. Selbst wenn dies der Fall gewesen ist, stehen ihr aus eigenem Recht keine Ansprüche zu. Entschädigung nach §21 BEG wird nur an denjenigen, dem die Sonderabgaben „auferlegt“ wurden, bezahlt. Auferlegt wurde die Judenvermögensabgabe offensichtlich nicht ihr, sondern dem Gerhard Loewe.
Ich halte es daher für geboten, die Erben zu ermitteln und diese zu veranlassen, ihre Entschädigungsansprüche an die Antragstellerin abzutreten
Ersatz der Pflegekosten kann nicht gewährt werden. Einer der BEG bzw. EG aufgeführten Tatbestände liegt nicht vor. Die Anwendung des §23 BEG kommt – auch wenn man unterstellt, dass die Antragstellerin selbst verfolgt wurde – nicht in Frage. Die Verfolgung war für den Eintritt des Schadens nicht kausal. Die Antragstellerin hat nämlich, unabhängig von der Verfolgung, dem Gerhard Loewe Unterhalt gewährt. Der Schaden trat dadurch ein, dass die zur Deckung der Kosten übereigneten Möbel usw. beschlagnahmt wurden. Dieser Tatbestand begründet allein Rückerstattungsansprüche.“

Derselbe Beamte schreibt an Lina Schaaf: „Wie beabsichtigen, einen Bescheid über die Entschädigung der von Gerhard Loewe bezahlten Judenvermögensabgabe zu erlassen. Da Sie als Antragstellerin aufgetreten sind, Ihre Berechtigung zur Geltendmachung der Wiedergutmachungsansprüche noch nicht nachgewiesen haben, bitten wir Sie, dies nachzuholen. Zu diesem Zweck wollen Sie beim Nachlassgericht einen Erbschein für die Erben des Gerhard Loewe beantragen und uns vorlegen. Ferner bitten wir Sie, die so festgestellten Erben zu veranlassen, die Wiedergutmachungsansprüche, die Ihnen als Erben des Gerhard zustehen, an Sie abzutreten. Diese Abtretung muss von der Landeszentralbank genehmigt werden.“

Lina Schaaf konnte dieses Schreiben nicht mehr beantworten. Wäre sie noch zu einem Versuch in der Lage gewesen, hätte sie vermutlich darüber den Verstand verloren.

Den Streit um die Entschädigung der Judenvermögensabgabe hat die Unites Restitution Organization noch einige Zeit fortgeführt, ihr hat Rudolf Bernhard Loewe seine Ansprüche abgetreten. Er endete mangels Aktivlegitimation zugunsten der Oberfinanzdirektion. Man mag nicht daran denken, dass hier vielleicht dieselben Beamten „Recht“ behielten, die seinerzeit die dreisten Raubzüge vollzogen.

Dankwart-Paul Zeller hat als Jugendlicher einige Monate mit Gerhard Loewe und Lina Schaaf unter einem Dach gewohnt. In seinem Buch „Galerie Kneipe“ hat er den beiden ein literarisches Denkmal gesetzt. Dass seine Erinnerungen in Details von der Realität abweichen, zum Beispiel trug Lina Schaaf als Arierin nicht den Judenstern, mindert in keiner Weise ihren Wert. Sie folgen hier mit freundlicher Genehmigung des Autors:

»Vor ihrer Wohnungstür im dritten Stock blieb mancher schmunzelnd stehen: Auf zwei Porzellantäfelchen waren in sanft geschwungener Schrift die Worte „Loewe“ und „Schaf“ gemalt. Sie waren schon viele Jahre die Nachbarn der Pensionseltern von Johannes [dem Autor dieses Textes], Tante Berta und Onkel Friedrich. Der war noch immer, trotz seiner schwächer werdenden Augen, ein angesehener Arzt und ein herzensguter Mann.

Der Name Schaf gehörte einer älteren, etwas schüchternen Dame. Ihr silbergraues, immer leicht zerzaustes Haar, ihre dunklen Augen, ihr leicht schielender, trauriger Blick, ihr feingeschnittenes Gesicht, die stark gebogene Nase und die schmalen, hellrot geschminkten Lippen, ihre zartgliedrige Gestalt sind in keinem Album mehr überliefert. Sie war nach dem Tod ihres Mannes, wohl aus verwandtschaftlichen Gründen, zu dem viel jüngeren Josua Loewe gezogen.

Dieser schlug sich ehelos durchs Leben: Ein hochgewachsener, etwas schlaksig daherkommender Einzelgänger von etwa vierzig Jahren, ein hochbegabter, leicht zerstreut wirkender Musiker und seines Zeichens Cellist in der Stuttgarter Oper. Die Nachbarskinder nannten ihn „Gäng-Gäng“ und hänselten ihn ab und zu: Er hatte die Angewohnheit, an der Haltestelle vorne am Eck die Töne der heranbimmelnden Straßenbahn vor sich hin zu summen: „Gäng-gäng, gäng-gäng“, so als wolle er prüfen, ob daraus eine Melodie zu machen sei. So war er nun mal, durchaus respektiert und manchmal belächelt. Und so lebten die beiden, Frau Schaf und Herr Loewe in guter Friedsamkeit seit Jahren zusammen, in der stillen Kreuznacher Straße nahe dem Cannstatter Kurpark. „Guten Morgen, Frau Schaf, ist das ein schöner Tag heute!“ – „Hallo, Herr Loewe, geht’s wieder zum Üben, oder ist heute Hauptprobe? Machen Sie’s gut!“ Guten Tag, gute Zeit, wie geht’s und wie steht’s – das war doch selbstverständlich in ihrer kleinen Straße. Das war es bis zu jenem Tag, an dem die Sterne kamen: sechseckige Sterne aus gelbem Stoff, in der Mitte ein großes schwarzes „J“. […]

Auch Josua Loewe und Sarah Schaf trugen nun den gelben Stern, sauber aufgenäht auf Jacke, Bluse und Mantel. „Hätten se das gedacht, daß die beiden Juden sind?“ Das Getuschel beim Friseur an der Ecke kam in Schwung. Frau Schaf ging nur noch auf die Straße, wenn es unbedingt sein musste. Gäng-Gäng dagegen ging weiterhin täglich zur Haltstelle mit seinem Cellokoffer. Das Anteilnehmen der Nachbarn in der Kreuznacher Straße, das „Guten Tag“ und „guten Weg“ wurde sparsamer, heimlicher, das Gehänsel der Kinder immer lauter. Gerüchte gingen um: vom Nordbahnhof würden nachts Transporte abgehen. Es braute sich was zusammen in der friedlichen Straße.

Und eines Tages war es so weit.

Ein gewöhnlicher Montag im November, neblig und windstill. Johannes kommt heute früher von der Schule, will sich die Zeit bis zum Essen vertreiben, holt seinen Fußball und kickt ihn gegen die Hauswand, wumm-bumm, mal hoch, mal tiefer und manchmal entwischt er auf die Fahrbahn. Vorne am Eck bimmelt die Straßenbahn vorbei – und von dort sieht er sie kommen. Zwei Männer in Ledermänteln, sonst keine Besonderheit. Alltagsgesichter unter den Luis Trenker-Hüten, ihre Blicke starr auf das Haus Nummer acht gerichtet, als handele es sich um einen längst gefaßten Plan. Ihr klackender, immer näher rückender Gang hat etwas Bedrohlich-Zwingendes an sich, das Gleichmaß der militärischen Schritte lässt keine Fragen zu.

Johannes weiß plötzlich genau, zu wem die wollen, krallt die Hände um den Ball, als sie an ihm vorbei ins Haus gehen die Treppen hoch zum dritten Stock.

Mittagszeit. Da trifft man die Leute an. Frau Schaf deckt vermutlich gerade den Tisch, ruft ihren Neffen zum Essen, hört die Klingel, geht zur Tür … Johannes wittert Gefahr, steht wie angewurzelt, den Ball unterm Arm, ewig lange Minuten … kein Mensch sonst auf der Straße.

Dann hört er wieder Tritte. Sie kommen herunter, Stufen knarren, kein Wort, keine Stimme ist hörbar. Sie treten aus der Haustüre – eine schweigende Prozession: zwei Männer in Mänteln aus schwarzem Leder und zwischen ihnen, im abgeschabten Mantel mit dem gelben Orden: Josua Loewe und Sarah Schaf; nur so, ohne größeres Gepäck, als wär’s ein Gang zum nahegelegenen Kurhaus. Herr Loewe hat ein kleines Köfferchen in der Linken, Frau Schaf trägt eine Handtasche an ihrem rechten Arm, ihr altmodischer Hut gibt ein paar graue, zerzauste Locken frei. Johannes sieht ihnen nach mit angstverriegeltem Mund, winkt leise mit der rechten Hand, als wär’s ein Abschied auf dem Bahnsteig. Sie schauen sich nicht um, haben sich eingehakt, stumm und etwas schleppend gehen sie, zwei Sternträger zwischen zwei bösen, schwarzen Engeln. Ohne Widerspruch, ohne Einvernehmen gehen sie die menschenleere, scheinbar ausgestorbene Straße entlang.

Im Haus gegenüber, in einem Fenster im ersten Stock bewegt sich ein Vorhang, vorsichtig zur Seite geschoben. Doch das Fenster bleibt zu. Johannes bleibt am Rinnstein stehen, bis sie vorn um die Ecke verschwinden, und weiß auf einmal: sie kommen nie mehr wieder.«

Kreuznacher Straße 6, Stolperstein verlegt am 24. September 2007.

Quellen und Literatur:
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 Bü ES 2282 und 2282-1
Goldschmidt, Dietrich: Erinnerungen an das Leben von Eugen und Marie Schiffer nach dem 31.1.1933. In: Berliner Jahrbuch 1991. – Ders.: Eugen Schiffer (14.02.1860-05.09.1954). Ein Leben für liberale Politik und volksnahes Recht. In: Walter Pauly (Hrsg.): Hallesche Rechtsgelehrte jüdischer Herkunft. Köln, Berlin, Bonn, München 1996.
Hahn, Joachim: Friedhöfe in Stuttgart. Bd 4. Steigfriedhof Bad Cannstatt. Israelitischer Teil. Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart. Bd. 60. Stuttgart 1995
Sauer, Paul: Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933-1945. Statistische Ergebnisse der Erhebungen der Dokumentationsstelle bei der Archivdirektion Stuttgart und zusammenfassende Darstellung. Stuttgart 1969
Zeller, Dankwart-Paul: Galerie Kneipe. Ein ausgefallenes Wiedersehen. 3. Auflage, Metzingen 2004
Zelzer, Maria: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, herausgegeben von der Stadt Stuttgart. Stuttgart o.J. [1964]


© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bild: Anke Redies

Mit Freuden habe ich registriert, dass für Gerdl Loewe ein Gedenkstein angebracht wurde.

Gerdl Loewe war ein Freund meines Vaters. Sie haben zusammen musiziert und bis zu seiner Deportation regelmäßig bei uns zu Hause Quartett gespielt. Ein oder zwei Jahre vor seiner Deportation musste ein neuer 1. Geiger gesucht werden, da sich der bis dahin dafür Zuständige weigerte, mit einem Juden zu spielen.

Doch jetzt einige Anmerkungen zum Bericht:

Es stimmt, der Geng-Geng war stadtbekannt, denn egal wo man ihn traf, er trällerte immer Melodien, und dies nicht wegen der Straßenbahn.

An den Straßenbahn-Haltestellen Wilhelms- oder Karlsplatz ging er jedoch regelmäßig seinem Hobby (Hauptbeschäftigung) nach, die Fahrer auf etwaige Fahrplanabweichungen hinzuweisen. Er stand, so wurde mir von meinem Vater erzählt, mit der Taschenuhr in der Hand und kontrollierte.

Es stimmt auch, dass er das so genannte absolute Gehör hatte, was bei Amateurmusikern nicht immer begrüßt wurde, denn er reklamierte kleinste Tonabweichungen, die ein normaler Sterblicher gar nicht hörte.

Meine Eltern und ich hatten bis lang nach dem Krieg eine bleibende Erinnerung an den Gerdl, denn im so genannten guten Zimmer, in dem auch musiziert wurde, waren im Linoleum die Abdrücke seines Cellos zu sehen, denn er stellte zum Leidwesen meiner Mutter sein Cello immer neben das dafür vorgesehene Holztellerchen.

Im Bericht steht auch, dass er mit Frau Schaaf in einer 5-Zimmer-Wohnung wohnte. Meine Eltern erzählten mir immer, dass ihm das Haus gehörte. Ich weiß nicht, was wirklich rchtig ist.

14. Dezember 2011
Peter R.

DIE FAMILIEWE AUS OBERSCHLESIEN

Meine Mutter, Rut Grünwald, geborene Loewe (1911 bis 1967), stammte aus Neustadt in Oberschlesien (heute Prudnik, Polen) und wurde am 26.02.1911 als einziges Kind des Fritz Loewe (04.04 1867 Zülz bis 30.04.1929 Neustadt) und der Irma Loewe-Kainer (1886 bis 14.07.1942 Auschwitz) geboren.
Rut Grünwald-Loewe und der Kunsthistoriker Dr. phil. Michael Grünwald hatten sich in Berlin kennen gelernt, von wo aus sie 1937 nach Italien auswanderten und von wo es ihnen 1943 gelang, zusammen mit meinem älteren Bruder im letzten Moment in die Schweiz zu flüchten.

Der Onkel meiner Mutter, Richard Loewe (11.11.1860 Zülz bis 15.10.1930 Cannstatt), war der ältere Bruder ihres Vaters Fritz Loewe und praktizierte über mehrere Jahrzehnte als Allgemeinarzt in Cannstatt. Er war in zweiter Ehe verheiratet mit Anna Loewe (geb. Schiffer, gest.1911). Aus dieser Ehe stammten die Söhne Rudolf Bernhard (geb. 1902), und Gerhard (geb. 1906-942 Deportation). Die Mutter Anna Loewe geb. Schiffer, war die Schwester von Eugen Schiffer (1860 Breslau bis 1954 Berlin), einem Politiker, der in der Weimarer Republik als Reichsjustiz- und als Finanzminister mehreren Regierungen angehörte.

Meine Mutter verbrachte im Jahre 1929 einen Studienaufenthalt in Stuttgart und wohnte während jener Zeit bei ihrem Onkel Richard in Cannstatt. Am Konservatorium in Stuttgart ging sie ihren Studien in Gesang und Musikpädagogik nach. Dabei lernte sich auch ihren Cousin Gerhard kennen, den sie als ganz besondere Persönlichkeit erlebte: Als einen sonderbaren, eher verschlossenen Menschen mit einem so genannten Savant-Syndrom, wie man das heutzutage fachlich bezeichnen würde. Gerhard spielte überdurchschnittlich gut Violoncello und besuchte bereits mit dreizehn Jahren das Konservatorium in Stuttgart, was außerordentlich früh war. Als musikalischer Savant machte er große Fortschritte und verfügte über ein außerordentliches fotografisches Gedächtnis. Auch im mathematischen Bereich soll er über eine besondere Begabung verfügt haben. Nach außen wirkte er eher verschlossen und als Sonderling, der wenig soziale Kontakte zu pflegen in der Lage war.

Betreut wurde Gerdel Loewe von Lina Schaaf, einer jüngere Frau, welche damals vom Vater des Jungen nach dem Tod der Mutter Anna als Haushälterin und Erzieherin herbeigezogen worden war. Leider musste sie miterleben, dass ihr Ziehsohn Gerhard 1942 deportiert wurde. Zu Lina Schaaf pflegte meine Mutter auch nach dem Zweiten Weltkrieg über längere Zeit hinweg Kontakt.
Thomas Grünwald
Juli 2015

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