Derselbe Beamte schreibt an Lina Schaaf: „Wie beabsichtigen, einen Bescheid über die Entschädigung der von Gerhard Loewe bezahlten Judenvermögensabgabe zu erlassen. Da Sie als Antragstellerin aufgetreten sind, Ihre Berechtigung zur Geltendmachung der Wiedergutmachungsansprüche noch nicht nachgewiesen haben, bitten wir Sie, dies nachzuholen. Zu diesem Zweck wollen Sie beim Nachlassgericht einen Erbschein für die Erben des Gerhard Loewe beantragen und uns vorlegen. Ferner bitten wir Sie, die so festgestellten Erben zu veranlassen, die Wiedergutmachungsansprüche, die Ihnen als Erben des Gerhard zustehen, an Sie abzutreten. Diese Abtretung muss von der Landeszentralbank genehmigt werden.“
Lina Schaaf konnte dieses Schreiben nicht mehr beantworten. Wäre sie noch zu einem Versuch in der Lage gewesen, hätte sie vermutlich darüber den Verstand verloren.
Den Streit um die Entschädigung der Judenvermögensabgabe hat die Unites Restitution Organization noch einige Zeit fortgeführt, ihr hat Rudolf Bernhard Loewe seine Ansprüche abgetreten. Er endete mangels Aktivlegitimation zugunsten der Oberfinanzdirektion. Man mag nicht daran denken, dass hier vielleicht dieselben Beamten „Recht“ behielten, die seinerzeit die dreisten Raubzüge vollzogen.
Dankwart-Paul Zeller hat als Jugendlicher einige Monate mit Gerhard Loewe und Lina Schaaf unter einem Dach gewohnt. In seinem Buch „Galerie Kneipe“ hat er den beiden ein literarisches Denkmal gesetzt. Dass seine Erinnerungen in Details von der Realität abweichen, zum Beispiel trug Lina Schaaf als Arierin nicht den Judenstern, mindert in keiner Weise ihren Wert. Sie folgen hier mit freundlicher Genehmigung des Autors:
»Vor ihrer Wohnungstür im dritten Stock blieb mancher schmunzelnd stehen: Auf zwei Porzellantäfelchen waren in sanft geschwungener Schrift die Worte „Loewe“ und „Schaf“ gemalt. Sie waren schon viele Jahre die Nachbarn der Pensionseltern von Johannes [dem Autor dieses Textes], Tante Berta und Onkel Friedrich. Der war noch immer, trotz seiner schwächer werdenden Augen, ein angesehener Arzt und ein herzensguter Mann.
Der Name Schaf gehörte einer älteren, etwas schüchternen Dame. Ihr silbergraues, immer leicht zerzaustes Haar, ihre dunklen Augen, ihr leicht schielender, trauriger Blick, ihr feingeschnittenes Gesicht, die stark gebogene Nase und die schmalen, hellrot geschminkten Lippen, ihre zartgliedrige Gestalt sind in keinem Album mehr überliefert. Sie war nach dem Tod ihres Mannes, wohl aus verwandtschaftlichen Gründen, zu dem viel jüngeren Josua Loewe gezogen.
Dieser schlug sich ehelos durchs Leben: Ein hochgewachsener, etwas schlaksig daherkommender Einzelgänger von etwa vierzig Jahren, ein hochbegabter, leicht zerstreut wirkender Musiker und seines Zeichens Cellist in der Stuttgarter Oper. Die Nachbarskinder nannten ihn „Gäng-Gäng“ und hänselten ihn ab und zu: Er hatte die Angewohnheit, an der Haltestelle vorne am Eck die Töne der heranbimmelnden Straßenbahn vor sich hin zu summen: „Gäng-gäng, gäng-gäng“, so als wolle er prüfen, ob daraus eine Melodie zu machen sei. So war er nun mal, durchaus respektiert und manchmal belächelt. Und so lebten die beiden, Frau Schaf und Herr Loewe in guter Friedsamkeit seit Jahren zusammen, in der stillen Kreuznacher Straße nahe dem Cannstatter Kurpark. „Guten Morgen, Frau Schaf, ist das ein schöner Tag heute!“ – „Hallo, Herr Loewe, geht’s wieder zum Üben, oder ist heute Hauptprobe? Machen Sie’s gut!“ Guten Tag, gute Zeit, wie geht’s und wie steht’s – das war doch selbstverständlich in ihrer kleinen Straße. Das war es bis zu jenem Tag, an dem die Sterne kamen: sechseckige Sterne aus gelbem Stoff, in der Mitte ein großes schwarzes „J“. […]
Auch Josua Loewe und Sarah Schaf trugen nun den gelben Stern, sauber aufgenäht auf Jacke, Bluse und Mantel. „Hätten se das gedacht, daß die beiden Juden sind?“ Das Getuschel beim Friseur an der Ecke kam in Schwung. Frau Schaf ging nur noch auf die Straße, wenn es unbedingt sein musste. Gäng-Gäng dagegen ging weiterhin täglich zur Haltstelle mit seinem Cellokoffer. Das Anteilnehmen der Nachbarn in der Kreuznacher Straße, das „Guten Tag“ und „guten Weg“ wurde sparsamer, heimlicher, das Gehänsel der Kinder immer lauter. Gerüchte gingen um: vom Nordbahnhof würden nachts Transporte abgehen. Es braute sich was zusammen in der friedlichen Straße.
Und eines Tages war es so weit.
Ein gewöhnlicher Montag im November, neblig und windstill. Johannes kommt heute früher von der Schule, will sich die Zeit bis zum Essen vertreiben, holt seinen Fußball und kickt ihn gegen die Hauswand, wumm-bumm, mal hoch, mal tiefer und manchmal entwischt er auf die Fahrbahn. Vorne am Eck bimmelt die Straßenbahn vorbei – und von dort sieht er sie kommen. Zwei Männer in Ledermänteln, sonst keine Besonderheit. Alltagsgesichter unter den Luis Trenker-Hüten, ihre Blicke starr auf das Haus Nummer acht gerichtet, als handele es sich um einen längst gefaßten Plan. Ihr klackender, immer näher rückender Gang hat etwas Bedrohlich-Zwingendes an sich, das Gleichmaß der militärischen Schritte lässt keine Fragen zu.
Johannes weiß plötzlich genau, zu wem die wollen, krallt die Hände um den Ball, als sie an ihm vorbei ins Haus gehen die Treppen hoch zum dritten Stock.
Mittagszeit. Da trifft man die Leute an. Frau Schaf deckt vermutlich gerade den Tisch, ruft ihren Neffen zum Essen, hört die Klingel, geht zur Tür … Johannes wittert Gefahr, steht wie angewurzelt, den Ball unterm Arm, ewig lange Minuten … kein Mensch sonst auf der Straße.
Dann hört er wieder Tritte. Sie kommen herunter, Stufen knarren, kein Wort, keine Stimme ist hörbar. Sie treten aus der Haustüre – eine schweigende Prozession: zwei Männer in Mänteln aus schwarzem Leder und zwischen ihnen, im abgeschabten Mantel mit dem gelben Orden: Josua Loewe und Sarah Schaf; nur so, ohne größeres Gepäck, als wär’s ein Gang zum nahegelegenen Kurhaus. Herr Loewe hat ein kleines Köfferchen in der Linken, Frau Schaf trägt eine Handtasche an ihrem rechten Arm, ihr altmodischer Hut gibt ein paar graue, zerzauste Locken frei. Johannes sieht ihnen nach mit angstverriegeltem Mund, winkt leise mit der rechten Hand, als wär’s ein Abschied auf dem Bahnsteig. Sie schauen sich nicht um, haben sich eingehakt, stumm und etwas schleppend gehen sie, zwei Sternträger zwischen zwei bösen, schwarzen Engeln. Ohne Widerspruch, ohne Einvernehmen gehen sie die menschenleere, scheinbar ausgestorbene Straße entlang.
Im Haus gegenüber, in einem Fenster im ersten Stock bewegt sich ein Vorhang, vorsichtig zur Seite geschoben. Doch das Fenster bleibt zu. Johannes bleibt am Rinnstein stehen, bis sie vorn um die Ecke verschwinden, und weiß auf einmal: sie kommen nie mehr wieder.«
Quellen und Literatur:
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 Bü ES 2282 und 2282-1
Goldschmidt, Dietrich: Erinnerungen an das Leben von Eugen und Marie Schiffer nach dem 31.1.1933. In: Berliner Jahrbuch 1991. – Ders.: Eugen Schiffer (14.02.1860-05.09.1954). Ein Leben für liberale Politik und volksnahes Recht. In: Walter Pauly (Hrsg.): Hallesche Rechtsgelehrte jüdischer Herkunft. Köln, Berlin, Bonn, München 1996.
Hahn, Joachim: Friedhöfe in Stuttgart. Bd 4. Steigfriedhof Bad Cannstatt. Israelitischer Teil. Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart. Bd. 60. Stuttgart 1995
Sauer, Paul: Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933-1945. Statistische Ergebnisse der Erhebungen der Dokumentationsstelle bei der Archivdirektion Stuttgart und zusammenfassende Darstellung. Stuttgart 1969
Zeller, Dankwart-Paul: Galerie Kneipe. Ein ausgefallenes Wiedersehen. 3. Auflage, Metzingen 2004
Zelzer, Maria: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, herausgegeben von der Stadt Stuttgart. Stuttgart o.J. [1964]
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bild: Anke Redies
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