Wer waren die Menschen, die der NS-„Euthanasie“ zum Opfer fielen? Man möchte ihre Biografie kennen, aber von Paul Ströbel wissen wir nur, dass er als jüngstes von sechs Geschwistern gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer Cannstatter Weingärtnerfamilie aufgewachsen ist. Er ging noch zur Schule, als erstmals Zeichen einer geistigen Erkrankung bei ihm auftraten. Mehrmals war er in Kliniken und Anstalten, aber nichts vermochte den Zerfall seiner Persönlichkeit aufzuhalten. 45 Jahre wäre er am 27. August 1940 alt geworden. Hatte seine Mutter sich vorgenommen, ihn zum Geburtstag zu besuchen? Frühere Besuche legen diese Annahme nahe, zumal sie immer wieder die Hoffnung hegte, ihr Paul würde wieder „ordentlich“ und könne im Weinberg helfen. Sie wirke befangen und bedrückt, weil „sie ihn statt nach Hause hierher [in die Heilnstalt Kennenburg] verbracht habe“, liest man in einer Anamnese von 1917, andrerseits scheine sie „aus bäuerlichen Vorurteilen heraus zu dissimulieren.“ Eine Feststellung, die wenig Einfühlung verrät, denn mit Sicherheit hat die damals wohl schon Siebzigjährige eher unter Vorurteilen ihrer Umgebung als unter eigenen Vorbehalten gelitten. Dass ihre Hoffnung auf Heilung in Phasen der Besserung auflebte und sie die fortbestehenden Krankheitszeichen übersehen ließ, ist nur zu verständlich. Seinen 45. Geburtstag hat Paul Ströbel nicht erlebt. Der Hinweis „Abgang 23. Juli“ und der unscheinbaren Stempelabdruck „verlegt“ verraten, dass er an diesem Tag mit einem Gekrat-Bus1 nach Grafeneck verbracht und ermordet wurde.
10 654 Gasmorde im Jahr 1940, so lautet die Bilanz von Grafeneck. Ausrotten und dem Vergessen anheim geben, hieß das Ziel der NS-Täter. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht im Grundgesetz. Paul Ströbel ist das Grundrecht auf Leben genommen worden. Sein Stolperstein soll daran und an die menschliche Hybris erinnern.
Zahlreiche Bürgerinnen und Bürgern, darunter Bezirksvorsteher Bernd-Marcel Löffler und Stadträtin Marita Gröber, haben an der
16. Cannstatter Stolperstein-Verlegung teilgenommen.
Mit Lesungen und einer bewegenden musikalischen Einlage gaben behinderte Menschen der Stolperstein-Verlegung für Paul Ströbel einen eindrucksvollen Verlauf.
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolpersteininitiative
© Fotos: Anke Redies, Petra Siebholz
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