Cannstatter Stolperstein-Initiative

Sara Rothschild, eines von vierzehn Geschwistern

Die Rothschild-Töchter Thekla, Helene, Bertha, Amalie und Sara (ganz rechts).Früh schon kam Sara Rothschild mit dem Tod in Berührung. Sie hat Geschwistern ins Grab nachgesehen, den Eltern, ihrem Ehemann. Ihr einziger Sohn fiel im Ersten Weltkrieg. Ihre Hoffnung auf ein geruhsames Alter machte die nationalsozialistische Judenpolitik zunichte, die Verelendung und Tod im Konzentrationslager für sie vorgesehen hat.

Gemmingen, ein Dorf im nordöstlichen Kraichgau, zählte um 1860/70 nahezu 300 jüdische Mitbürger. Ihrer Gemeinde, die seit fast einem halben Jahrhundert über eine eigene Synagoge verfügte1, gehörte Leopold Rothschild an, 1834 geboren und Viehhändler von Beruf. Er verheiratete sich 1862 mit Hanna Weil aus Ittlingen.2 1867 und in den beiden folgenden Jahren stellten sich die Söhne Josef, Moriz und Aaron ein. Auch Tochter Sara kam 1871 noch in Gemmingen zur Welt, aber jetzt waren ihre Eltern offenkundig schon entschlossen, dem Beispiel vieler Landjuden zu folgen und in die Stadt zu ziehen. Dass ihre Wahl auf Cannstatt fiel, lässt sich vielleicht mit der dortigen jüdischen Gemeinde erklären, die sich gerade von Stuttgart gelöst und selbständig gemacht hatte. Sicher hat auch die dem Viehhandel zuträgliche verkehrsgünstige Lage der Oberamtsstadt am Neckar die Entscheidung beeinflusst.

Die Entwicklung scheint Leopold Rothschild Recht gegeben zu haben, denn laut Steuereinzugsregister von 1872 betrug sein Vermögen 73 5000 Gulden (entsprechend 55 000 Euro) und war 1875/76 auf 25 700 Mark (entsprechend 164 000 Euro) angewachsen.3 Die Verlagerung des Viehhandels in die Oberamtsstadt hat also offenbar große Geschäftserfolge gezeitigt.

Rasch wuchs auch die Familie. Nicht weniger als zehn Geschwister folgten auf Sara, nämlich Emil (Jg. 1872), Amalie (Jg. 1874), Emma (Jg. 1875), Bertha (Jg. 1876), Helene (Jg. 1877), Thekla (Jg. 1878), Otto (Jg. 1880), Karl (Jg. 1881), Ferdinand (Jg. 1883) und Sali (Jg. 1887). Wie ihre Lebenswege verlaufen sind, wissen wir nur von acht dieser insgesamt 14 Geschwister. Josef, der älteste, ergriff den Beruf seines Vaters, er starb 1924 mit 57 Jahren. Ihm waren schon 1877 die zweijährige Emma und 1903 der 22-jährige Karl vorausgegangen. Sie alle fanden ihre letzte Ruhe auf dem israelitischen Steigfriedhof, wo auch der 1900 gestorbene Vater und die 1906 verschiedene Mutter der großen Familie ruhen. Sali, der Jüngste der Familie „war zusammen mit seiner Schwester Geschäftsinhaber der Firma Rothschild, Siedner & Co, OHG Fabrikation und Großvertrieb von Damenhüten und Zutaten in Köln. […] Am 9.11.1938 wurden die Geschäftsräume zerstört, das Warenlager geplündert, sodass ihr Geschäft geschlossen werden musste.“ Sali ist 1937 in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Ob alleine oder zusammen mit der erwähnten Schwester, es kann nur Berta oder Helene gewesen sein, geht aus den Akten nicht hervor.4 Thekla Rothschilds Leben endete in Auschwitz. Sie war eine verheiratete Michel und wird in den einschlägigen Datenbanken5 mit abweichenden Vor- und Geburtsnamen, falschem Geburtsdatum und Geburtsorten wie Kronstadt und Crumstadt geführt. Mittels einer Page of Testimony bei Yad Vashem lässt sich aber zweifelsfrei klären, dass sie in Bad Kreuznach gelebt hat und nach Frankreich ausgewandert ist. Ihr Weg in den Tod führte am 4. November 1942 über Drancy ins Vernichtungslager. Von Aarons und vor allem Saras Schicksal soll im Folgenden ausführlicher die Rede sein.

Schillerstraße 24 (heute Wiesbadener Straße) lautete bis 1908 die Anschrift der Rothschilds. Bis 1938 wohnte Sara Rothschild im Hause Taubenheimstraße 35, zunächst mit Familie, später allein als Witwe.Verheiratet hat sich Sara Rothschild 1890 mit Max (Marum) Rothschild, der wie sie selbst aus Gemmingen stammte. Die Adressbücher weisen ihn bis 1916 als Fabrikant und Teilhaber der renommierten Cannstatter Bettfedernfabrik6, danach als Vertreter aus. Das Ehepaar wohnte in stattlichen Häusern beim Kursaal und am Seelberg, zunächst Martin-Luther-Straße, dann Taubenheimstraße und Teckstraße. 1891 und 1892 kamen die Kinder Lydia Lucie und Bella zur Welt, 1896 folgte der Sohn Theodor, 1899 die Tochter Bertha. Theodor fiel im Ersten Weltkrieg als Musketier7. Lydia Lucie wurde am 1. Dezember 1941 zusammen mit ihrem Mann Benno Bieringer nach Riga deportiert und ermordet. Bella und Bertha entkamen der NS-Verfolgung nach Amerika und haben nach dem Zweiten Weltkrieg Wiedergutmachung beantragt. Biografische Hinweise lassen sich den dabei entstandenen Akten nicht entnehmen, jedoch wurde aufgrund einer eidesstattlichen Aussage (Blatt 28) vorübergehend angenommen, Tochter Lydia Lucie hätte ihre Mutter überlebt und beerbt , jedoch hat sich die Zeugin als unglaubwürdig erwiesen.8
In der Taubenheimstraße blieb Sara wohnen, nachdem ihr Mann 1923 gestorben war, 1926 firmierte sie als Wäscheannahmestelle, in den Jahren bis 1933 dann mit dem Hinweis „Vertretung“. Vielleicht hat sie das Geschäft ihres Mannes fortgeführt. Wenn sie als 62-Jährige mit dem Umzug in die bescheidene Wohnung im Hause Taubenheimstraße 33 die Hoffnung auf einen geruhsamen Lebensabend verbunden hat, sah sie sich bald getäuscht, denn nun wurden die Juden von einem fanatisch beschleunigten Wirbel aus Drohungen, Schikanen, Gesetzen, Diskriminierung, Ausraubung und roher Gewalt erfasst, der sie schließlich in den Untergang trieb. Nachdem sie die Reichspogromnacht erlebt und erfahren hatte, was ihrem Bruder Sali in Köln widerfahren war, nachdem sie seit September 1941 den Judenstern hatte tragen müssen, schließlich ohne Lebenszeichen ihrer nach Riga deportieren Tochter Lydia Lucie geblieben war, dürfte Sara Rothschild sich über den Zweck ihrer eigenen Deportation im Klaren gewesen sein. Die Sorgen um Thekla, die in Frankreich von den deutschen Besatzern eingeholt worden war, und um den ausgewanderten Sali, der kein Lebenszeichen senden konnte, werden sie zusätzlich niedergedrückt haben.

Ein Schritt aus der Bedrückung in die totale Hoffnungslosigkeit dürfte dann ihre Zwangsevakuierung nach Buchau gewesen sein.9 In Stuttgart herrschte Wohnungsnot, also pferchte man betagte Jüdinnen und Juden in „Altersheime“ auf dem Lande. Die beschönigende Bezeichnung stand in Buchau für „Judenhäuser“, in die bereits die einheimischen Juden abgedrängt worden waren, nachdem man viele ihrer eigenen Häuser schon beraubt hatte. Mit der Zwangsverlagerung hierher war nicht nur die Möglichkeit des Rückzuges in eigene vier Wände verloren, er bedeutete auch den weitgehenden Verlust eigener Habe. Diesen Verlust teilte Sara Rothschild mit ihrem älteren Bruder Aaron. Am 2. März 1942 mussten die beiden ihre Stuttgarter Wohnungen verlassen und sahen sich noch tiefer ins Elend gestoßen, als sie es bis dahin schon waren. Ob überhaupt und wenn ja, wie viel Gemeinsamkeit den Geschwistern in dieser von Zukunftsängsten geprägten Zeit noch möglich war, lässt sich nicht sagen. Wann hatten sie zuletzt von ihren Geschwistern, Neffen und Nichten gehört, wann von Freunden und Verwandten, die angeblich umgesiedelt worden waren?

Die Buchauer Zeit endete nach reichlich fünf Monaten – mit einem Schreckensszenario, das noch einmal alles Bisherige in den Schatten stellte: Die betagten Juden aus den württembergischen „Altersheimen“ wurden im August 1942 auf den Stuttgarter Killesberg verbracht, wo ihnen eine Nacht im Chaos und auf nacktem Boden bevorstand. Es folgte anderntags der Fußmarsch zum Inneren Nordbahnhof und die alle Menschenwürde missachtende Bahnfahrt nach Osten. Die Ankunft in Buschowitz, der nächst der Festung Theresienstadt gelegenen Eisenbahnstation, hat Resi Weglein, eine Überlebende des Transports, wie folgt geschildert. „Als der Zug hielt, stiegen zuerst die SS-Männer mit Sturmbannführer Koch aus. Auf dem Bahnsteig stand Lagerkommandant Dr. Seidl mit weiteren SS-Männern und sehr vielen tschechischen Gendarmen. Junge tschechische Juden übernahmen das Ausladen. Da die meisten alten Menschen nicht selbst aussteigen konnten, wurden sie aus den Wagen gehoben. Die Gehfähigen mussten etwas abseits gehen. Und die Siechen und Kranken wurden auf den Boden gelegt. Zwei sehr schlechte Lastkraftwagen standen zur Beförderung dieser Kranken bereit. Damit ja niemand eine Bequemlichkeit hatte, mussten die Kranken stehen, gleichgültig ob sie dazu in der Lage waren oder nicht. In rasendem Tempo fuhren die Wagen nach Theresienstadt, wo die Menschen halbtot in der so genannten Schleuse abgeliefert wurden.“10 Wie die mittlerweile 71-jährige Sara Rothschild genau ins Lager gelangte, ob sie mit ihrem Bruder Kontakt halten konnte, vermag niemand zu sagen, aber die Annahme ist gerechtfertigt dass sie am Ende ihrer Kräfte und aller Hoffnung war, als sie die Umstände des Lagers kennen lernte. Sie starb am 3. Oktober 1942.11 Vier Tage zuvor war Aaron von Theresienstadt ins Vernichtungslager Treblinka deportiert worden. Einen Monat nach Sara, am 4. November 1942, wurde ihre Schwester Thekla im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Taubenheimstraße 33, Stolperstein verlegt am 16. April 2012.

© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: StAL und Anke Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative

  • 1. Hahn, Joachim und Jürgen Krüger: Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen, S. 143 ff.
  • 2. Zu Leopold und Hanna Rothschild sowie ihren Kindern siehe:Friedhöfe in Stuttgart 4. Joachim Hahn: Steigfriedhof BadCannstatt, Israelitischer Teil, Stuttgart 1995.
  • 3. Zelzer, Maria: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Stuttgart [1964], S.56. Deutsche Bundesbank: Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen. Stand Januar 2017
  • 4. StAL EL 350 I Bü 52268 (Blatt7)
  • 5. Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland 1933 – 1945. Yad Vashem. The Central Database of Shoa Victims‘ Names. Le Mémorial de la Shoa, Centre de documentation juive contemporaine.
  • 6. Die von Ferdinand Hanauer (1868 bis 1955) 1884 gegründete Cannstatter Bettfedernfabrik Rothschild und Hanauer (1932 Untere Ziegelei 2) wurde bis 1974 im Besitz der Familie Hanauer fortgeführt. Die dünne, zum 75-jährigen Bestehen des Unternehmens erschienene Broschüre „Cannstatt und seine ‚vier C‘“ schweigt über die frühe Firmengeschichte.
  • 7. Rothschild, Theodor, led., Kaufmann, Musk., Res.Inf.Rgt. 119, 1. Komp., geb. 27.07.1896 in Cannstatt, gest. 29.06.1916 in Bapaume (Frankr.) (Ehrenbuch der Gefallenen Stuttgarts 1914-1918. Im Auftrag der Stadtgemeinde herausgegeben vom Wohlfahrtsamt. Stuttgart 1925, S. 509)
  • 8. StALudwigsburg 350 I Bü 22555 und Bü 32553.
  • 9. Mayenberger, Charlotte: Juden in Buchau, Bad Buchau 2008. SS. 150, 259.
  • 10. Weglein, Resi: Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt, Stuttgart 1988. S. 23ff.
  • 11. Ihrer Wiedergutmachungsakte StAL EL 350 I Bü 32554 sind fast keine biografisch relevanten Informationen zu entnehmen.

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